1938-1982
Eine Kurzgeschichte von Kai Bliesener
Sollte sie die Biografie schreiben? Dem Verlag für viel Geld geben, was er wollte und der Öffentlichkeit bieten, wonach es sie dürstete?
Das Geld konnte sie gut gebrauchen. Auf den Rest würde sie aber gerne verzichten.
Oder sollte sie besser das Dutzend Kisten voller Fotos, voll blasser Erinnerungen an ausgelöschte Zeiten nehmen und einfach in den Kamin werfen, damit diese Dämonen der Vergangenheit sie endlich in Ruhe lassen und verschwinden würden?
Woher sollte sie das wissen. Was verstand sie schon vom Leben? Was war das Leben überhaupt? Eine Wanderung am Abgrund, die einen mit jedem Schritt dem Tod etwas näherbrachte?
Dabei lebte sie, was allgemein als Traum betrachtet wurde. Ihre Schönheit, ihr Talent und vor allem ihr Unglück hatten sie schon als Kind zu einer Legende gemacht. Gefangen und eingeschnürt im viel zu engen Sissi-Korsett war ihr Leben zu einem einzigen Fluchtversuch geworden, bei dem ihr mehr und mehr die Luft ausgegangen war.
Ja, vielleicht war das Feuer ein guter Anfang. Gab es etwas Wahrhaftigeres? Das Knistern hat etwas Beruhigendes, es wärmt, ist lebendig und doch so gefährlich. Es zeigt beide Seiten, aus denen die Welt besteht.
Flammen loderten auch in ihr, wenn sie an Alain dachte. Und die Gedanken an Alain Delon waren immer da, vor allen anderen. Sie liebte ihn noch immer. Bedingungslos. Keiner reichte an ihn heran. Er war ihre große Liebe und ihr Untergang zugleich.
Als Hure hatte man sie in Deutschland beschimpft, weil sie sich ausgerechnet mit einem Franzosen liierte. Sie hatte den jungen und noch unbekannten Beau Delon bei den Dreharbeiten zu „Christine“ kennen und lieben gelernt. Damals war sie gerade zwanzig. Nach einer stürmischen Fünf–Jahre-Liaison verließ sie der umtriebige Playboy. Und sie? Sie schnitt sich die Pulsadern auf, konnte aber noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht werden. Rechtzeitig. Blödsinn. Eher zu früh. Vielleicht wäre es besser damals zu Ende gegangen, war ein wiederkehrender Gedanke ihrer Erinnerung an die schmerzhaften Stationen ihres Lebens. Der Schmerz, er war ihr einziger verbliebener Reichtum. Davon hatte sie unendlich viel.
Es wird schwierig eine Biografie zu schreiben. Auch wegen ihm, wegen Alain, ihrem geliebten Alain. Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Welche Lücken muss sie füllen, welche reißt sie auf. Und welchen Schmerz gilt es dann wieder zu ertragen?
Sie greift nach einem Buch, das neben ihr auf dem Tischchen lag. Die Erinnerungen der Schauspielerin Eleonora Duse. Sie blättert zum Lesezeichen, liest kurz darin. Dann unterstreicht ein Zitat des Dichters Gabriele D’Annunzio: „Ich weiß, was der Ruhm bedeutet,und was das Nahen der Nacht.“
Ja, die Nacht. Sie umschließt sie langsam mit ihrem schweren, dunklen Mantel.
Tatsächlich ist immer mehr von ihrer Lebenstragödie denn von ihrem Werk als Darstellerin die Rede. Mehr als 60 Filme hat sie gedreht, mit Regisseuren wie Helmut Käutner, Orson Welles, Federico Fellini, Otto Preminger, Luchino Visconti und Claude Chabrol hat sie gearbeitet. Und das an der Seite von Schauspielkollegen wie Anthony Perkins, Jean Paul Belmondo, Curd Jürgens, Jean-Louis Trintignant, Jack Lemmon, Peter Sellers, MarcelloMastroianni, Alain Delon, Yves Montand und natürlich immer wieder Michel Piccoli.
Das Who is Who der Filmgeschichte.
Fragten Journalisten die Kollegen, was denn so besonders sei an ihr, hörte sie immer wieder die Worte "Intensität", "Schönheit", "Leidenschaft", „Wahrhaftigkeit". Aber auch "verstörend", "besessen" und "haltlos".
"Ich habe vor nichts auf der Welt Angst. Nur vor mir", hat sie einmal in einem Interview übe rsich selbst gesagt. Wie wahr, wie wahr, bestätigte sie sich diese Erinnerung.
Sie greift in eine Kiste und hat einen Brief des französischen Regisseurs Claude Sautet in der Hand. Fünf Filme hatte er mit ihr gedreht. Auch er nannte sie in geschwungener Handschrift lebensfroh und verletzlich, strahlend selbstsicher, doch voll innerer Selbstzweifel.
Und da waren sie wieder, die Dramen, die ihr Privatleben prägten. Die Dämonen der Vergangenheit.
Ihr erster Ehemann, Harry Meyen, war ein schönerMann. Aber er hat sie ausgesaugt, ihr Geld weggenommen. Er zog sie an, und im gleichen Moment zerstörte er sie. Sie entschloss sich deshalb, ihn zu verlassen. Danach beging er Selbstmord, und sie fühlte sich dafür verantwortlich.
Ja, sie hatte immer Geschichten mit Männern, die dazu da waren, sie zu zerstören.Sie hatte eine masochistische Ader.
„La Facility m’emmerde“ - alles Einfache langweilt mich“, sagte sie leise vor sich hin, als wolle sie sich damit vor sich selbst entschuldigen.
Die Spaziergängerin von Sans-Souci war ihr letzter Film. Sie drehte ihn nach dem größten Drama ihres Lebens. Im Sommer 1981 wurde ihr vierzehnjähriger Sohn David beim Versuch, über einen Zaun zu klettern, von einer Metallspitze aufgespießt und starb. Ein Verlust, der eine Wunde in ihr Leben gerissen hatte, so groß wie ein Vulkankrater. Ein Schmerz, der nie verging, der bestenfalls betäubt werden konnte. Tabletten und Alkohol waren das einzige Rezept, den Schmerz und die Trauer zurückzudrängen.
Heute ist der 29. Mai 1982. Sie ist 43 Jahre alt und sitzt am Schreibtisch in ihrer Wohnung in Paris. Nebenan schläft ihr Lebensgefährte, der französische Filmproduzent Laurent Pétin.
„Nur abends, wenn ich allein bin, bin ich manchmal glücklich“, hatte sie einmal zu ihm gesagt, damit er verstand, warum sie nicht mit ihm zu Bett ging, sondern lieber noch alleine in der Nacht war.
Sie raucht, greift nach einem Füller und beginnt einen Brief zu schreiben, neben ihr eine fast leere Flasche Rotwein. Die zweite des Abends.
Doch Nebel zogen auf, hingen traurig über ihr, wie der Nebel über der Themse. Diese Mischung aus Alkohol und Tabletten. Ihre Therapie gegen das Leben.
Im Film kann ich alles, im Leben nichts dachte sie kurz.
Jetzt würde sie schreiben. Aber keine Biografie.
2021
acryl, leinwand
130 x 150
cm