Kurzgeschichte von Kai Bliesener
„Ja, von hier oben ist es schön, und so friedlich sieht es aus, ohne Kanonendonner“, sagte Günter zu der Ratte, die ihm von hinten über die Schulter blickte. Sie standen am großen Panoramafenster. Unter ihnen glitt Europa im Wechselspiel von tiefem Blau und cremigem Braun mit einigen wenigen grünen Sprengseln vorüber.
„Weißt Du“, sagte er nachdenklich und schmauchte an seiner Pfeife. „Gewünscht hätt ich mir, dass man mich versteht, zwischen meinem ersten Trommeln und den letzten Tänzen. In den Jahren dazwischen habe ich mich in den Hundejahren durch das Häuten der Zwiebel mit meinem Jahrhundert beschäftigt und alles in der Box festgehalten, was ich über das weite Feld hinweg sehen konnte. Doch das Ergebnis hat mich nicht nur örtlich betäubt, die ständigen Kopfgeburten haben mich bedrückt. Wir kamen allen Unkenrufen zum Trotz nur im Krebsgang voran. Dabei war es ein richtiges Katz-und-Maus-Spiel. Da konnte auch der Butt nicht helfen und kein Treffen in Teltge, nur meine neue Freundin, die Rättin, die sah es kommen.“ Jetzt wandte er sich um und sah in das neugierige Gesicht der Ratte. „Also Du.“
Sie sagte nichts.
Aus dem All starrten sie gemeinsam auf den zur Wüste verwandelten Globus. „Diese real gewordene Horrorvision ist der zwingende Beweis für die bornierte Ignoranz der Menschen“, flüsterte die Ratte. „Nichts weniger als die Zerstörung der Menschheit hat die Rattus Norvegicus, die gemeine Wanderratte, die ich bin, schon damals, 1986 vorhergesagt.“
Der Mann mit dem Walrossbart erinnerte sich an die gemeinsame Arbeit am Manuskript. „Wir haben keine Angst“, hatte die Ratte damals gesagt und ihm ihre Utopie unterbreitet, vom Planet der Ratten, nachdem der Mensch den Wald getötet, die Umwelt zerstört und mit Kriegen die Lebensräume der seiner eigenen Spezies vernichtet hat. Aus den Ruinen auferstehen würden die Ratten und eine neue, auf Solidarität gegründete Zivilisation aufbauen.
Und da war ihm klar geworden, dass sie recht hatte. Wenn sich nichts änderte, würde sich der Mensch selbst auslöschen. Das war fast vierzig Jahre her.
„Warum habt ihr nichts getan?“, fragte die Rättin dann. „Vierzehn Jahre vor unserem Buch war doch schon klar, wohin die Reise geht, wenn das Wachstum und der Ressourcenverbrauch ewig so weitergehen. Der Club of Rome hat es euch präsentiert.“
Nachdenkliche Rauchschwaden umwehten den Kopf des Mannes im braunen Cordanzug, der immer wieder an seiner Pfeife saugte. „Ja, das ist einigermaßen absurd. Aber der Mensch will sich selbst in der Not nicht ändern. Unsere Gegenwart macht Zukunft fraglich und produziert den einzigen Zuwachs unserer Tage: Armut, Hunger, verpestete Luft, vergiftete Gewässer, vom Kahlschlag vernichtete Wälder und sich wie selbständig aufstockende Waffenarsenale, die der vielfachen Vernichtung der Menschheit fähig sind.“
„Die Sätze kommen mir bekannt vor“, zögerte die Ratte.
„Sie sind auch nicht neu. 1982 habe ich sie in Rom gebraucht, bei der Dankesrede für den Feltrinelli-Preis. Aber seither hat sich nichts getan. Nein, sachlich und unserer Zeit gemäß schlagen zu Buche: Zahlenkolonnen, die den Hungertod bilanzieren, die Statistik der Verelendung, die ökologische Katastrophe zur Tabelle verkürzt, der ausgezählte Wahnsinn, die Apokalypse als Ergebnis eines Geschäftsberichtes.“
„Dein Pessimismus schürt meinen Optimismus“, gluckste die Rättin beinahe fröhlich.
„Dabei waren meine fantastischen Rattenmensch-Chimären nur eine Weltuntergangsrevue mit hohem Unterhaltungswert“, sinniert Grass bedeutungsschwanger weiter. „Das wäre heute anschlussfähig, Cross-Culture sozusagen, denn Trash und Drama vertragen sich einfach gut. Wer konnte wissen, dass ich recht behalten sollte?“
Er spülte die Galle, die ihm hochkam, mit einem großen Schluck Rotwein hinunter und sah aus dem Fenster, während ihr Gleiter lautlos über Nordamerika schwebte.
„Ach Günter, Du Prophet. Ich hoffe, Du hast recht, denn wir Ratten, wir sind verrückt nach Leben.“
2023
öl, acryl, leinwand
180 x 160
cm