Eine Kurzgeschichte von Joachim Speidel
Wen suchen Sie? Yossarián? Also DEN Captain Yossarián? Hier in meiner Bar? Na, dann schauen Sie sich einmal hier um. Sehen Sie Yossarián? Nein? Sie haben wahrscheinlich gehört, dass Yossarián ab und und zu hier in meine Bar kommt, um an der Theke ein Bierchenzu trinken?
Ja, das stimmt alles – aber was soll ich sagen?
Yossarián ist tot! Das haben Sie nicht gewusst? Tja, so ist es aber. Er ist abgeschossen worden. Als Bombenschütze ist Yossarián ja einige Male abgeschossen worden. Tja, und beim letzten Mal hat’s ihn dann erwischt.
Er ist ja zu einem Helden geworden, oder wenn Sie wollen, zu einem Anti-Helden. Nicht nur wegen seiner Feindflüge. Kein Bomberschütze hat so viele Feindflüge geflogen wie er. Dabei hat er alles getan, um schon vorzeitig aus dem Kriegsdienst auszuscheiden. Wirklich alles.
Legendär, also im wahrsten Sinne des Wortes legendär waren ja Yossariáns Versuche, sich vom Kriegsdienst freistellen zulassen aufgrund nachgewiesener Geisteskrankheit.
Dadurch ist diese Regel, diese Catch-22-Regel ja erst bekannt geworden. Bis dahin wusste niemand, dass es diese Regel überhaupt gibt!
Sie besagt – warten Sie, ich hoffe, ich kriege noch alles zusammen – sie besagt, dass ein Soldat vom Kriegsdienst nur freigestellt werden kann, wenn man nachgewiesenermaßen geisteskrank ist. Aber damit die Geisteskrankheit ärztlicherweise nachgewiesen werden kann, muss der betreffende Soldat oder Bombenschütze vorher einen Antrag stellen. Aber so ein Antrag wird automatisch als Zeichen offensichtlicher geistiger Gesundheit angesehen, weil Angst vor dem Kriegsdienst und der Versuch, sich von ihm freistellen zu wollen, als absolut normal gilt.
Tja,wie Sie vielleicht wissen, hat Yossarián viele Male diesen Antrag gestellt, bis er erkannt hat, dass Catch-22 ihm keinen Ausweg aus seiner Situation bot. Also flog er einen Feindflug nach dem anderen. Die meisten seiner Freunde starben, und er, er weigerte sich irgendwann, militärische Ziele zu bombardieren.
Sie haben sicher von der Geschichte gehört, dass er einmal die gesamte Bombenladung einfach so im Mittelmeer abwerfen ließ. Wahnsinn! Was für ein absoluter Wahnsinn! Na ja, er ist anschließend als »größter Fischmörder der Geschichte« bezeichnet worden, aber das war Yossarián so was von schnurzpiepegal.
Tja, so war er eben: Captain Yossarián!
Es gab ja das Gerücht, er sei desertiert, aber das stimmt nicht. Ihn hat ein Flak-Geschoss erwischt. Er ist davor bereits sieben Mal abgeschossen worden, jedes Mal hat er überlebt, aber dieses Mal, beim achten Mal …
Soll ich Ihnen was sagen? Also ganz im Vertrauen! Sie scheinen ein ganzverständiger Mensch zu sein. Also – dann passen Sie mal auf:
Als er beim achten Mal abgeschossen wurde, hat er - jetzt halten Sie sich fest –, da hat er eigentlich auch überlebt.
Doch da gibt es noch eine weitere Regel, von der niemand etwas weiß, die vollkommen unbekannt ist: Nach dieser Regel hat ein Bomberschütze sieben Leben. Wie eine Katze. Wenn diese sieben Leben verwirkt sind …tja, dann gilt man offiziell als tot.
Natürlich muss man dafür auch einen Antrag stellen. Den hat Yossarián, nachdem er zum achten Mal abgeschossen wurde, auch gestellt. Und was soll ich sagen: Dem Antrag wurde voll umfänglich stattgegeben.
Yossarián gilt seither als offiziell tot.
Tja, keine Ahnung, warum diese Regel keinen Extra-Namen hat. Vielleicht weil es sowieso so gut wie nie vorkommt, dass jemand mehr als sieben Mal abgeschossen wird und jedes Mal überlebt.
Oder vielleicht weil der Tod keine Regeln kennt.
Auf alle Fälle hat Yossarián sogar eine Sterbeurkunde erhalten, und mit der Sterbeurkunde kann man ihn zu nichts mehr zwingen oder verpflichten.
Hat eigentlich fast nur Vorteile für ihn. Als Toter muss er zum Beispiel auch keine Steuern zahlen. Er muss überhaupt nichts mehr zahlen.
He, wie ich gerade sehe, ist es – warten Sie mal – kurz vor elf. Also wenn Sie noch Zeit haben, bleiben Sie einfach hier. Yossarián taucht meistens gegen elf hier in der Bar auf. Trinkt ein Bierchen oder zwei.
Er könnte zwanzig trinken. Und müsste nichts dafür zahlen. Weil er ja offiziell tot ist.
Klar, theoretisch könnte ich ihm ja Hausverbot erteilen, aber er ist einfach ein feiner Kerl. Er soll hierher kommen und was trinken, wann er will und so viel er will.
Also warten Sie noch ein paar Minuten, dann ist er da, und dann können Sie mit ihm plaudern. Er hat jede Menge zu erzählen.
2023
öl, acryl, leinwand
170 x 200
cm