Kurzgeschichte von Kai Bliesener
"Huaaaa." Jack Torrance schüttelt wild seinen Kopf, legt ihn in den Nacken, bellt und heult wie ein tollwütiger Hund. Die aufgerissenen Augen rollen, der ganze Körper bebt.
Eine rohe und animalische Kraft pulsiert durch die Adern des Mannes, droht beinahe die Leinwand zu sprengen.
Auf dem Bett liegt eine Axt. Torrance packt sie am Stil, schwingt sie durch die Luft und beginnt zu grunzen: "Axtmord. Töten. Töten."
Dann holt er aus und treibt mit der unbändigen Kraft des Wahnsinns die scharfe Klinge immer wieder in die hölzerne weiße Badezimmertür, hinter der sich seine Frau Wendy in panischer Angst laut kreischend vor ihm verschanzt hat.
Wahnsinn.
Ich rutsche tiefer in den harten, hölzernen Kinosessel. Eigentlich dürfte ich nicht hier sein, der Film ist ab 16. Aber Jenny an der Kasse geht auf meine Schule und hat mir gesagt, wenn ich sie am Wochenende auf ein Eis einlade, lässt sie mich rein. Was für ein Deal. Erst der Film, dann Jenny. Aber im Moment kann ich nicht an Jenny denken, obwohl sie neben mir sitzt, denn Kubricks Symphonie des Grauens lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Da hilft auch ihre warme Hand wenig, die aus dem Nichts auftaucht und sich vorsichtig auf meine legt, die sich in der harten Lehne verkrallt hat.
Vo nirgendwo schießt mir ein Zitat von Stephen King durch den Kopf. Ich hatte ihn damit in einem Fernsehinterview gesehen. Er mochte den Film offensichtlich nicht und wetterte: „Wenn wir Jack Nicholson zum ersten Mal sehen, weiß man schon, dass er so verrückt ist wie eine Scheißhausratte.“
Dabei beginnt es harmlos. Ein Intro, in dem ein gelber VW Käfer durch eine imposante Berg- und Waldlandschaft fährt. Idyllische Naturaufnahmen in überwältigende Bilder verpackt. Ein Augenschmaus ist diese Fahrt ins Blaue, ins schier Übermächtige einer von heller Sonne umstrahlten Bergwelt.
AuftrittJack Nicholson als Jack Torrance. Ein freundlicher, ruhiger Familienvater und angehender Schriftsteller, der für ein halbes Jahr mit seiner Familie die Ruhe sucht. Ein Buch will er schreiben, kommt aber über einen Satz nicht hinaus. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, steht da. Alle Seiten seines Manuskripts hat er mit diesem Satz beschrieben. Immer und immer wieder. Doch eigentlich ist die deutsche Übersetzung irgendwie Mist, denke ich, als mir der Satz aus dem Original in den Sinn kommt: All work and no play makes Jack a dull boy.
Jack macht als Jack einen standhaften und verantwortungsbewussten Eindruck. Aber ich finde King hat irgendwie recht. Jack sieht schon beim ersten Auftritt als Familienvater im Bewerbungsgespräch leicht irre aus. Aber hier flog keiner über das Kuckucksnest, hier war das Shining am Werk.
Und Jack? Jack ist einfach wahnsinnig.
Doch welcher Jack ist das eigentlich? So genau weiß man das nicht. Jack ist Jack, egal ob Nicholson oder Torrance. Der Film erzählt ganz einfach die Geschichte einer Familie, die langsam dem Wahnsinn verfällt. Und in der Mitte des Wahnsinns: Jack!
Dann schießen die alptraumhaften Blutfontänen aus den geschlossenen Fahrstuhltüren und fluten die Flure des winterlich verlassenen und eingeschneiten Overlook Hotels, irgendwo hoch oben in den Rocky Mountains.
Jennys Hand ist verschwunden. Aber ich spüre ihre Nähe. Sie beobachtet mich.
Für King ist das Hotel wichtiger als Jack. Doch im Film ist Jack mächtiger als das Horrorhaus. So verschiebt sich der Wahnsinn, den Kubrick aus dem Buch macht.
Nicholsons Spiel wird immer beängstigender. Er spielt den Psychopathen nicht, er wird zu ihm. Er ist ein Psycho.
Und mir wird kalt. Ich werde meine Zimmertüre abschließen heute, und obwohl es Sommer ist, werde ich auch die Fenster zu lassen.
Aber ich kann den Blick nicht von der Leinwand lassen, kann diesem Wahnsinn nicht entkommen. Mir fällt Kinski ein. Fitzcarraldo. War die Darstellung der Irren bis dahin sein Metier, hat selbst er in Nicholson seinen Meister gefunden, wie mir scheint. Nicholson steht bequem auf einer Stufe mit Anthony Perkins‘ Norman Bates in Psycho. Schlimmer noch, er übertrumpft ihn.
Eine kürzlich gesehene Doku kommt mir in den Sinn: Jack Nicholson, der auch abseits der Kamera pfeifend und mit irrem Blick wie eine suchende Ratte durch die Hallen des Hotels streunte, war von Beginn an psychopathisch. Jack, der das Leben seiner Familie in diesem Psychogramm eines Wahnsinnigen aus dem Gleichgewicht bringt, auch.
Auf der Leinwand verteidigt sich Shelley Duvall mit einem Baseballschläger gegen Jack oder Nicholson. Oder beide. „Ich werde Dich nicht anfassen, ich werde Dir bloß den Schädel zertrümmern,“ meint er, während sie rückwärts dieTreppe hinauf vor ihm zurückweicht.
Das ist bevor Jack Torrance, der durchgedrehte Psychopath, seine elegant geschwungene, scharfe Axt das Holz der Badezimmertüre in Stücke drischt.
«Here's Jaaack!» meint er und steckt seinen Kopf durch das Loch in der Badtüre. Shelley Duval schreit in panischer Angst um ihr Leben.
Ich schreie mit und greife nach Jennys Hand.
Sie lacht.
2019
acryl, leinwand
125 x 160
cm